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Nichts taugt Ungeduld,
Noch weniger Reue;
Jene vermehrt die Schuld,
Diese schafft neue.

J.W.v.Goethe

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da dachte ich, man müsse sich entschuldigen. Entschuldigen für Verhaltensweisen, welche von der Normgesellschaft als inadäquat gelten. Selbstverständlich wird einem das auch so beigebracht als Kind.

 

Hast du jemandem deine Sändelischaufel über die Birne gezogen und seine Sandburg zerstört? Entschuldige dich!

Warst du zu forsch und hast deine Meinung zu laut über ein Thema aus der Lebenswelt einer deiner Artgenossen geäussert, welches dich überhaupt nichts angeht? Entschuldige dich!

Kommst du zum dritten Mal zu spät ins Sitzungszimmer rein? Entschuldige dich!

 

Obwohl mich diese Gedanken zur Schuldfrage gerade umtreiben und ambivalent stimmen, bin ich mir im Klaren und der festen Überzeugung, dass es gewisse Regeln des Respekts braucht, um überhaupt in der Realität überleben zu können. Aber! Woher kommt denn dieses „Sich-entschuldigen-müssen“?

Sich „ent-schuldigen“, bedeutet ja, sich von einer Schuld zu befreien. Ja aber von welcher denn?

Reden wir noch immer von der Erbsünde, als Eva, die dumme Kuh, vom Baum der Erkenntnis ass und uns seither alle Schuld der Welt und jeglichen weiteren existierenden Parallelwelten auf unseren Schul(d)tern ablud?

Schuld beginnen wir zu tragen oder schuldig werden wir, durch Wertungen und Erwartungshaltungen, welche wir an den Tag legen.

Ich gebe mir Mühe möglichst wenig zu werten. Räusper… Respektive, immer dann kurz inne zu halten, wenn ich feststelle, gerade eine Situation, einen Menschen oder einen Gegenstand zu (be-)werten. Was schwer ist. Unsagbar schwierig sogar! Doch ich versuche dem Guilty-Party-Dilemma in meinem Leben möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten.

Gut-schlecht, gross-klein, hübsch-hässlich (Adjektive kann man steigern, yay!)…

Werten und sich einen Überblick über den Gesamtzustand zu schaffen, liegt in unserem evolutionären Überlebensmuster, ganz klar. Lohnt es sich der Gazelle nachzujagen? Wird sie genug Futter für alle hergeben, die ich über die Runden bringen muss? Abwägen und werten – ja oder nein?! LOHNT es sich denn?

Da ich jedoch davon ausgehe, dass unsere Jagd dank den Coops und Migros dieser Welt deutlich einfacher gestaltet ist und wir den Gazellen nicht mehr nachjagen müssen, lege ich den Evolutionsgedanken nun zur Seite.

Schuldig werden wir, durch uns auferlegte Erwartungshaltungen der Normgesellschaft, dem Klerus oder wie man die Obrigkeit, der man gefallen muss, um als überhaupt überlebensfähig zu gelten, auch immer nennen mag.

Aus irgendeinem Grund, meist Traumata aus der Kindheit, (diesen Zopf haben wir nun zur Genüge gehört) können wir gewisse Erwartungen nicht erfüllen, reagieren anders als erwünscht (wie viel Entwicklungspsychologie in solchen Gedanken steckt, macht mir selbst grad Angst) und PÄNG! Schuldig! Geht ganz schnell und fix. Passt also auch noch wunderbar in unsere schnelllebige Zeit. Gäbe es die heilige Inquisition noch – meine Güte, die hätten aber viel zu tun. Wären wohl die Arbeitgeber des Jahrhunderts. „Bewerben Sie sich noch heute bei uns – Jobs en masse… Geschuldet wird immer.“

Inquisitoren und Totengräber könnten dann noch fusionieren und das Ganze würde eine Goldgrube werden. Doch dieser Gedankengang durch die heiligen Hallen des Mittelalters wird nun doch etwas morbider, als von mir geplant. Zurück also zum Ursprungsgedanken. Die Schuldfrage…

Sich ENT-schuldigen, muss man nur, wenn man es zu lässt, Schuld aufgeladen zu bekommen. Und ich rede nicht von gesetzlich verwerflichen Schulden wie Mord und Totschlag. Sondern von seelischen Schulden. Diesen Dingen, die an einem nagen und einem innerlich auffressen.

„Klopf klopf, da bin ich wieder. Deine Schuld, die sich tief an deiner Seele festgefressen hat. Wär mal wieder Zeit für ein Update! Warst schon lang nicht mehr ONLINE.“

Immer wieder darf ich wundervolle Menschen mit unglaublich tief ausgeprägter emotionaler Intelligenz kennen lernen. Meist fallen sie einfach so vom Himmel und landen in meinem Leben. Ich bitte nicht darum, es passiert einfach immer von selbst. Lesson, poison or gift… Sie fallen so schnell runter, dass der Aufprall meist sehr heftig ist und es ganz doll wehtut, da der Boden meist gleich mit durch die Decke geht, bzw. einbricht und alles dann auch schon wieder vorbei ist.

(ENTschuldigung liebes Universum, falls ich dich nun gerade beleidigt habe und herausfordere. Aber du kannst toben so heftig du willst. Ich hab keine Angst mehr vor dir.)

Auf jeden Fall sind die Hauptthemen zwischen mir und meinen vom Himmel fallenden Fällen stets Schuldhaftigkeit und Beziehungen.

(Weil man ja IMMER in Beziehung zu jemandem ist, auch wenn man keine Beziehung hat, da man sich ja IMMER auf jemanden bezieht. Blabla.)

Ob A-nziehung oder B-eziehung. Wir beziehen uns immer aufs Gegenüber. (Sollte man meinen.)

Diese Themen sind dann halt auch sehr verbindend sowie sinnstiftend, da man ja dem Gegenüber von seinen alten Schwächen erzählt. Von seinen Sühnen.

Wer hat wann, wem, eine PET-Flasche oder ein Fahrradschloss über den Kopf gezogen?

Wo hat man, was falsch gemacht hat und wurde schuldig, weil man das Date sausen liess, um seinen eigenen Lustprinzipien zu frönen. (Es-Ich-Über-Ich, danke Freud!)

Der Austausch solcher tiefen Themen schafft Bindung und Nähe. Man wägt sich in Sicherheit. Man ist sich einig, dass man in „dubio pro reo“ ist, auf jeden Fall an diesem Abend, an diesem Tag, in diesem Augenblick, da beide so offen über Schuld reden und Lösungsansätze diskutieren.

Man ist verbündet am Lido am See oder vereint durch eine Federboa, einträchtig am Bruschette mampfend sowie verbrüdert am Hardcore Vibes hörend oder gar geistesverwandt den falschen Zug besteigend. Und ob all diesen alltäglichen Dingen, schwebt das Schuldthema über einem drüber mit und man fühlt sich verbunden, durch das offene Gespräch, welches man gerade über die eigenen alten Lebensschulden führt. #kitschendetgleich

Aber alsbald – in der Morgendämmerung, kurz bevor dir dein letzes Quäntchen Boden wegbricht, wird dir bewusst – wer so offen über Schuld reden kann, ist gar nicht dein Seelenverwandter, sondern jemand, der sich seiner Schuld ganz bewusst ist und sie auch weiterhin lebt.

Dieser Gedanke ist befreiend und die inneren Inquisitoren schwingen die weisse Fahne. Nicht schuldig! Du wusstest es ja von Anfang an. Don´t do culprits!

Schuldig bin nur ich ganz alleine vor mir selbst. Zu hoffen und zu glauben, dass es eine Frage der Wertschätzung der vergangenen Momente ist, sich auf noch ausstehende Fragen zu äussern und sich erst DANACH höflich wieder aus dem Leben des Anderen zu verabschieden. Das ist einzig und alleine meine Schuld, dies so zu erwarten. Schuldig bin nur ich, mich zu fragen – was ist denn nur geschehen? Welchen Teil der Staffel Guilty-Party hab ich verpasst? Ab wo wurde meine Rolle gecancelled? Wäre es nicht schön, diesen Grund erfahren zu dürfen? Es würde so fest helfen.

Ich werde auf immer und ewig FÜR den Angeklagten sein. Denn somit bin ich FÜR mich UND den anderen Angeklagten. Das ist schön. Eine Qualität, wenn man vergeben kann. Und zum Glück liegt auf meinem wegbrechenden „In dubio pro reo-Boden“ bei mir zu Hause auch immer immer etwas Glitzer und Konfetti. Für die Stimmung, die Ästhetik und nicht zu Letzt die Hoffnung…diese Konfetti bald wieder mit dem einen Culprit in die Luft werfen zu dürfen. Always*

§3999 · Januar 28, 2018 · Allgemein · (No comments) ·


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